Apr 22 2020

Buchtipp #4

Normalerweise organisieren wir Veranstaltungen, verleihen Bücher und sind ein Ort für Austausch und Diskussionen. Wir wollen trotz der erzwungenen Pause nicht den Kopf in den Sand stecken und euch darum in nächster Zeit mit einigen Buchvorschlägen versorgen. Aktuell ist es immerhin noch möglich (zumindest in Berlin) sich bei den liebsten Buchläden mit neuem Lesestoff zu versorgen.

Buchläden in Berlin:


Stadt der Rebellion – Omar Robert Hamilton

Stadt der Rebellion von Omar Robert Hamilton ist ein Roman über junge Kämpfer*innen während und nach der Revolution in Ägypten 2011.
Es ist eine Geschichte über den Versuch die eigenen Ideen in einem langwierigen Kampf nicht zu verlieren, in dem sehr schnell die Macht der Straße niedergeschlagen werden soll.
 
Zwei Hauptcharaktere Mariam und Khalid lernen sich in den Gefechten des Tahir Squares kennen. Sie gründen mit Freund*innen das Radio Kairo und sind von den Tagen der Revolution an auf den Beinen und zu allem bereit. Sie diskutieren in jeder freien Minute wie wild über ihr Leben im Ausnahmezustand. Mariam verarztet Verletzte als ungelernte Krankenschwester in den Seitenstraßen des Tahrir. Khalid und seine Freunde machen Interviews mit den Familien der Märtyrer, die in diesen Nächten getötet wurden.
Die Leben der beiden Kämpfenden verändern sich über die Jahre, schrittweise mit jedem neuem Regime. Khalid versucht sich krampfhaft die Szenen der gasumhüllten euporischen Nächte in Erinnerung zu rufen während sich Mariam rastlos in Polit-Arbeit isoliert.

Die Perspektive des Buches springt hin und her und ist geprägt von Tweets, Smartphone Nachrichten und Radiobeiträgen, die auf die persönliche Rekonstruktion des Autors von dieser Zeit hinweisen.
Die Verbindung einer Liebesbeziehung und den Überzeugungen von Menschen, die bereit waren auf dem Tahrir im Alter von 20 Jahren zu sterben, ist mitreißend, ermutigend und traurig zugleich.

„Wir haben sie bekämpft, wir haben ihre Polizeiwachen niedergebrannt, wir haben sie aus unseren Städten verjagt. Sollen sie ruhig noch einmal kommen. Sie haben jetzt Angst vor uns.“

Der Alltag zwischen Steinewerfen, Luft holen, Diskussionen und Propaganda ist teilweise so nachvollziehbar, dass die Ernüchterung über die Entwicklung der Revolution einen zerrüttet und man sich vorwirft, nicht vor Ort gewesen zu sein.

„Was soll man tun, wenn niemand mehr hinschaut?“, fragt Hafez. „Was hat es noch für einen Sinn, Fotos zu machen oder Podcasts zu erstellen, wenn alle schon wissen, was du sagen wirst? Und sie wissen es nicht nur – sie finden es sogar gut.“ „Mariam findet, wir dürfen nicht aufhören.“ „Man muss aber schockieren. Jedes Mal muss schockierender sein als das Mal davor. Was unmöglich ist.“ Wir verfallen in Schweigen. 

Ein Buch, dass all die Zweifel darüber aufwirft, wie es möglich ist weiter zu kämpfen, auch wenn es wohl nie zu jener Veränderung der Verhältnisse kommen wird, die wir uns erträumen. Ein Buch das in eine Bezugsgruppe des Tahrir hinein zoomt, die sich so verbunden anfühlt, dass einem ihre Erlebnisse sehr nahe kommen.

Verlag Klaus Wagenbach Berlin
320 Seiten

#VirusOfControl


Apr 7 2020

Buchtipp #3

Normalerweise organisieren wir Veranstaltungen, verleihen Bücher und sind ein Ort für Austausch und Diskussionen. Wir wollen trotz der erzwungenen Pause nicht den Kopf in den Sand stecken und euch darum in nächster Zeit mit einigen Buchvorschlägen versorgen. Aktuell ist es immerhin noch möglich (zumindest in Berlin) sich bei den liebsten Buchläden mit neuem Lesestoff zu versorgen.

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David Foster Wallace – Unendlicher Spass

Dystopisch allemal, ist dieses Buch für all jene die schwarzen und politisch nicht immer korrekten Humor lieben, ein auf etwa 1500 Seiten schier unendlicher Spass.

Episodenhaft befindet sich werte Leser*in in einer zukünftigen USA die sich mit den Nordamerikanischen Ländern in einer ausgeweiteten Allianz befinden und da die Jahre nach jeweiligen Sponsoren benannt werden spielt das Ganze größtenteils im “Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche”.

Räumlich spielt der Großteil der Handlung in Boston. Einerseits in einer Tennis-Elite-Schule wo Schüler*innen sich mit Drogen volldopen und andererseits in einer Entzugsanstalt auf der anderen Seite der Straße. An den jeweiligen Orten befinden sich zwei der Hauptcharaktere, die auf der Suche nach dem Film “Unendlicher Spass” sind, da sie diesen Film zerstören wollen. Denn wer den Film sieht will nix anderes mehr als ihn immer und immer wieder zu schauen. Menschen vergessen sogar zu essen und somit sterben sie. Das bringt auch die Terrorgruppe aus Quebéc auf den Plan. Die A.F.R., „Assassins des Fauteuils Rollents“. Diese zu exzessiver Gewalt fähigen „Rollstuhlattentäter“ wollen diesen Film auch finden, aber um diesen dann im TV-Programm abzuspielen und damit die USA endgültig auszulöschen.

Zusammenfassend will ich darauf hinweisen (Triggerwarnung), dass dem Buch auch eine Menschenverachtung mitsamt absurdester Brutalität zugrunde liegt: “Hal, der leer, aber nicht blöd ist, postuliert insgeheim, dass das, was sich als hippe zynische Tranzendenz des Gefühls ausgibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist, denn ein echter Mensch (zumindest so wie er ihn begreift) ist wahrscheinlich unvermeidlich sentimental, naiv, schmalzanfällig und ganz allgemein erbärmlich, er ist in seinem innersten Inneren lebenslänglich infantil, ein irgendwie nicht ganz richtig aussehendes Kleinkind, das sich anaklitisch über die Karte schleppt, mit großen feuchten Augen, froschweicher Haut, riesigem Schädel und schmalzigem Dummschwätz.” Es ist auch Hal, der eines Tages nach Hause kommt und einen leckeren Bratengeruch wahrnimmt, sich auf ein schönes Abendessen freut um dann aber feststellen zu müssen, dass sich sein Vater mit dem Kopf in der Mikrowelle das Leben nahm….

Letztlich ist es eine Art Annekdotensammlung, zudem bespickt mit interessanten Fremdwörtern, von denen ich zumindest vorher noch nie gehört habe -anaklitisch bspw. ist ein depressives Syndrom, das bei Säuglingen auftritt. Dennoch bleibt alles verständlich, auch wenn das Lexikon nicht zur Hand ist, aber wer neue Wörter lernen möchte, kann hier auch unendlich fündig werden.

Die Seitenanzahl lässt befürchten, dass mensch sich bemühen und dranbleiben solle, aber die episodenhafte Schreibweise macht es wirklich leichthin möglich das Buch jederzeit aus der Hand zu legen und später wieder in die Geschichte einzutauchen.

 

#VirusOfControl


Apr 5 2020

Buchtipp #2

Normalerweise organisieren wir Veranstaltungen, verleihen Bücher und sind ein Ort für Austausch und Diskussionen. Wir wollen trotz der erzwungenen Pause nicht den Kopf in den Sand stecken und euch darum in nächster Zeit mit einigen Buchvorschlägen versorgen. Aktuell ist es immerhin noch möglich (zumindest in Berlin) sich bei den liebsten Buchläden mit neuem Lesestoff zu versorgen.

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Woher der Wind weht – Ron Jacobs

Die „Weather Underground“ waren eine militante, linksradikale Gruppierung, die in den 60ern und 70ern in den USA aktiv war. Ursprünglich als „Weatherman“ bekannt, spalteten sie sich 1969 vom Sozialistischen demokratischen Studierendenverband (SDS) ab. Über ein Jahrzehnt lang verübten sie mehrere Anschläge auf Ziele und Verantwortliche der amerikanischen Kriegsmaschinerie in Vietnam, sowie Solidaritätsaktionen für die Black Panther Bewegung.

„You don‘t need a weatherman to know which way the wind blows“, war der Titel eines Positionspapier einiger Menschen innerhalb des SDS, welches das Gründungspapier des späteren Weather Underground dar stellte. Das Ziel war es, eine weiße Widerstandsgruppe aufzubauen, um die schwarze Befreiungsbewegung zu unterstützen. Mit diesem Papier machte Weather deutlich, dass sie dem schwarzen Befreiungskampf eine besondere Rolle im breiteren antikapitalistischen Kampf zurechneten. Nach Weathers Analyse fundierte der amerikanische Kapitalismus und Imperialismus auf der Sklaverei und bestehenden Ausbeutung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung.

Am 4.12.1969 wurden zwei bedeutende Mitglieder der Panther Bewegung bei einer Hausdurchsuchung erschossen. Dieser Mord, sowie die brutale Repressionserfahrung während der „Tage des Zorns“ im Oktober in Chicago, führte zu dem Entschluss der Weatherman in den Untergrund zu gehen.

Schlagartig gingen über hundert Mitglieder von Weather in den Untergrund und bauten über die nächsten Jahre eine gut vernetzte Struktur auf, um das Leben im Untergrund zu organisieren.

Bis in die siebziger Jahre, attackierten der Weather Underground zahlreiche Strukturen. Im Februar 1970 flogen 3 Molotovcocktails auf das Zuhause des Supreme Court Richter, im Juni wurde das Hauptquartier der New Yorker Polizei Ziel eines Angriffs, 1972 explodierte eine Bombe im Pentagon.

Im Jahre 1977 verübte der Weather underground einen letzten Anschlag, in dessen Nachfolge mehrere Mitglieder verhaftet wurden. Trotz intensiver Bemühungen von Seiten des Staates, erzielte die Justiz weder längere Haftstrafen, noch konnten irgendwelche relevanten Informationen über die noch Gesuchten erlangt werden.

Ron Jacbos zeichnet in seinem Buch „Woher der Wind weht“ die Geschichte des Weather Underground nach. Von ihrer Abspaltung vom SDS bis hin zu den letzten Urteilen, die gegen einzelne Mitglieder gefällt wurden. Er veranschaulicht die Strategiewechsel, welche die Organisation über die Jahre hinweg durchlief und ordnet die Geschichte des Weather Underground ein, in die gesellschaftliche Stimmung und Zusammenhänge während der Black Panther- sowie Anti-Kriegs Bewegung.

 

#VirusOfControl


Apr 2 2020

Buchtipp #1

Normalerweise organisieren wir Veranstaltungen, verleihen Bücher und sind ein Ort für Austausch und Diskussionen. Wir wollen trotz der erzwungenen Pause nicht den Kopf in den Sand stecken und euch darum in nächster Zeit mit einigen Buchvorschlägen versorgen. Aktuell ist es immerhin noch möglich (zumindest in Berlin) sich bei den liebsten Buchläden mit neuem Lesestoff zu versorgen.

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Evgenij Samjatin – Wir

„Ich musste viel Unwahrscheinliches über die Zeiten lesen und hören, als die Menschen noch im freien, d.h. im unorganisierten, wilden Zustand waren. Doch als das Unwahrscheinlichste erschien mir immer gerade das: wie konnte die damalige staatliche Regierung – mag sie auch noch im Embryonalzustand gewesen sein – es zulassen, dass die Menschen ohne irgendetwas Ähnliches wie unsere Gebotstafeln lebten, ohne verpflichtende Spaziergänge, ohne genaue Regulierung der Essenszeiten, dass sie aufstanden und sich schlafen legten, wenn es ihnen gerade in den Kopf kam; einige Historiker sagen sogar, es hätten in diesen Zeiten auf den Straßen die ganze Nacht Lichter gebrannt, man sei die ganze Nacht auf den Straßen gegangen und gefahren.“

Tunesien 2020: Überprüfung der Ausgangssperre durch Robocops.

Der dystopische Roman wurde bereits 1920 verfasst und diente als Vorlage für Orwells „1984“ sowie Huxleys „Schöne neue Welt“. Auch wenn dieser Roman als Kritik am sowjetischen Staat konzipiert wurde, lassen sich viele totalitäre Konzepte entdecken, die in der heutigen Zeit auf dem gesamten Globus wiederzufinden sind.

Der Vereinigte Staat ist durch eine Mauer von der wilden Welt abgeschottet, die Häuser sind aus Glas, die Menschen haben keine Namen – sie sind Nummern.

Der Raketenkonstrukteur D-503 führt in seinem Tagebuch durch ein totalitäres Herrschaftssystem, welches auf der unfehlbaren, wahrhaftigen Wissenschaft und Rationalität beruht. Jeder Moment des Tagesablaufs ist vorgegeben, die Arbeit, die Reproduktion und auch die Freizeit, wenn zu musikalischen Klängen aus der Musikfabrik marschiert wird.

Die Beschützer überwachen und bespitzeln die Menschen, die sich nicht als funktionierende Rädchen im Mechanismus abfinden wollen. Jede Abweichung von der mathematisch kalkulierten Norm wird vom Wohltäter drakonisch bestraft. Dabei setzt er neben den Beschützern auf die denunziatorischen Bürger_innen seines Staates. Sie sind seine Augen und Ohren, um alles widerständige im Keim zu ersticken.

Doch eines Tages lernt der staatstreue D-503 Farben, Gefühle und die Freiheit kennen. Sein Arzt diagnostiziert ihm: „Es steht schlecht um Sie! Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet.“

 

#VirusOfControl